Lean Systems Engineering hilft komplexe Produkte schneller zu entwickeln – Interview mit Dr. Michael Jastram

„BYD entwickelt inzwischen Autos in 18 Monaten, statt den in der Industrie üblichen 4 Jahren“. Diese Aussage stammt von Stella Li, Executive Vice President vom Autohersteller BYD und CEO von BYD Americas. Wie schaffen das die Chinesen? 

„Mit Lean Systems Engineering!“, meint Dr. Michael Jastram und ergänzt: „Drei Faktoren sind dabei besonders wichtig.“. Unser Interview mit dem Experten für leichtgewichtige Produktentwicklung.

Hallo Michael: Beginnen wir unseren Austausch wie ein gutes Systems Engineering Projekt – den Grundbegriffen. Was verstehst Du unter Lean Systems Engineering?

Lean Product Development ist ein Ansatz, um komplexe, aus Mechanik, Elektronik und Software bestehende innovative Produkte schneller zu entwickeln, als das konventionell möglich ist. Beispiele für solche Produkte sind Fahrzeuge, Infusionspumpen, Rauchmelder oder Anlagen.

Die Entwicklung dauert traditionell bei solchen Produkten recht lang: Mechanische Teile können nicht mal eben verändert werden, erst recht nicht mit Over the Air (OTA) Updates, wie bei Software. Da solche Produkte tief in das Leben eingreifen, sind sie oft sicherheitskritisch. Sie müssen daher Compliance-Anforderungen erfüllen und müssen über den Lebenszyklus des Produkts verwaltet werden.

Wir haben schon vor langer Zeit gelernt, sichere Produkte zu entwickeln. Diese basieren auf den Prinzipien des Systems Engineering (SE). SE funktioniert, doch wird es durch steigende Komplexität der Produkte immer aufwendiger. Und es ist langsam: Die Entwicklung eines deutschen Autos dauert ca. 4 Jahre von Konzept bis zur Produktion.

Lean Systems Engineering verspricht, mit den aus der Softwareentwicklung bekannten Konzepten die Entwicklungsgeschwindigkeit drastisch zu beschleunigen. Durch den internationalen Wettbewerb ist das auch dringend nötig. Insbesondere China macht der Automobilindustrie mit “China-Speed” gehörig Druck.

„Lean Systems Engineering verspricht, mit den aus der Softwareentwicklung bekannten Konzepten die Entwicklungsgeschwindigkeit drastisch zu beschleunigen. Durch den internationalen Wettbewerb ist das auch dringend nötig. Insbesondere China macht der Automobilindustrie mit ‚China-Speed‘ gehörig Druck.“

Dr. Michael Jastram

Machen wir den Ansatz konkret. Hast Du ein Beispiel für dieses Lean Systems Engineering?

Die Raptor-Triebwerke von SpaceX sind ein extremes Beispiel, das ich gern zitiere. Das Triebwerk ist noch in der Entwicklung und treibt das Starship an.

Lean Systems Engineering zielt darauf ab, durch Automatisierung die Entwicklungszyklen so stark wie möglich zu verkürzen und dadurch möglichst schnell möglichst viel zu lernen. Konkret bedeutet das, dass möglichst viele virtualisiert und Tests automatisiert werden. Wenn der Designer zum Beispiel den Durchmesser einer Kühlleitung verändert, so überprüft eine Simulation, ob die thermischen Anforderungen noch erfüllt sind – also bspw. nicht schmilzt.

SpaceX automatisiert die Entwicklung radikal auf allen Ebenen, bis hin zur Produktion, die zu großen Teilen auf 3D-Druck setzt. Das Ergebnis: Eine Entwicklungsschleife dauert nur noch 2 Tage. Also: Redesign, Bauen und Test des fertigen Triebwerks.

Diese Iterationsschleifen beziehen sich nur auf das Redesign, nicht die Architektur. Diese hat SpaceX Anfang 2025 erst zum dritten Mal überarbeitet. Das Ergebnis sind nicht nur drastisch reduzierte Kosten und höhere Entwicklungsgeschwindigkeit: In der dritten Generation sind die Triebwerke 50% leichter und gleichzeitig 50% stärker.

2022 sprach man im Land beim Aufbau der Systeme „Liquefied Natural Gas (LNG) Terminals“ vom Deutschlandtempo. Welche Faktoren beflügeln die extreme Hard- & Softwareentwicklung?

Leider hat Deutschlandtempo wenig mit Lean Systems Engineering zu tun: Dort ging es eher um verkürzte Planungs- und Genehmigungsprozesse, Stichwort: LNG-Beschleunigungsgesetz. Bei Lean Systems Engineering geht es um innovative Produkte. Ein LNG-Terminal ist nicht innovativ, schließlich wurden weltweit Hunderte bereits gebaut.

Der wichtigste Faktor für Lean Systems Engineering ist ein hoher Reifegrad bezüglich Systems Engineering in der Organisation. Ebenfalls wichtig ist der Einsatz von Modellen in möglichst vielen Bereichen der Entwicklung. Beispiele aus dem Design sind MCAD, ECAD, Simulation, aber auch Anforderungs- und Systemmodelle. Für letzteres wird oft der Begriff Model Based Systems Engineering (MBSE) verwendet, die dort etablierte Modellierungssprache ist SysML. Diese zwei Faktoren legen die Grundlage für den dritten Faktor, die Automatisierung, welche kurze Entwicklungszeiten möglich macht. 

Hier möchte ich ein weiteres Beispiel nennen: Die Firma Wagner entwickelt Brandschutzsysteme für Gebäude. Zum Beispiel werden Feuer durch die Entfernung von Sauerstoff aus der Atmosphäre in Lagerhallen gelöscht. Das sind Systeme mit hohen Sicherheitsanforderungen, die vom TÜV zertifiziert werden müssen. Wagner arbeitet mit Codegenerierung aus Modellen, wodurch bestimmte Aspekte des Softwaretestens komplett wegfallen. Wenn bspw. ein Zustandsautomat über Model Checking als frei von Deadlocks verifiziert wurde, so muss der generierte Code nicht weiter auf Deadlockfreiheit getestet werden. Bei Wagner geht die Integration noch weiter: Die Systemtests können in der Regel vollautomatisiert in einem geschlossenen Testraum durchgeführt werden. Der Clou: Durch ein doppeltes Schloss kann Wagner diesen Raum nur zusammen mit einem TÜV-Mitarbeiter betreten. Durch dieses Setup hat Wagner zwei Vorteile: Zum einen beschleunigt es die Entwicklung. Doch wichtiger ist, dass der TÜV Systeme, die den Systemtest im Testraum erfolgreich abschließen, als zertifiziert ansieht. Das ist ein enormer Wettbewerbsvorteil, denn der Zertifizierungsprozess kann bei Mitbewerbern Monate dauern, bei Wagner jedoch dauert sie nur Tage.

„Der wichtigste Faktor für Lean Systems Engineering ist ein hoher Reifegrad bezüglich Systems Engineering in der Organisation. Ebenfalls wichtig ist der Einsatz von Modellen in möglichst vielen Bereichen der Entwicklung. Diese zwei Faktoren legen die Grundlage für den dritten Faktor, die Automatisierung, welche kurze Entwicklungszeiten möglich macht.“

Dr. Michael Jastram

Und was kann ich als Geschäftsführer, Manager oder Product Owner nun konkret tun?

Zum Glück können Unternehmen an den drei oben genannten Faktoren parallel arbeiten. Schulungen im Systems Engineering sind ein guter Schritt, um den Reifegrad zu erhöhen. Das International Consortium for Systems Engineering (INCOSE) stellt hierzu viele Materialien bereit und bietet Zertifizierungen an.

Modellierung wird in den meisten Unternehmen bereits praktiziert, oft allerdings nur punktuell. Dies kann systematisch ausgebaut werden. Allerdings darf Modellierung nicht zum Selbstzweck verkommen und eine übergreifende Traceability ist essentiell, um den Mehrwert der Modellierung zu realisieren.

Zuletzt empfehle ich ein iteratives Vorgehen, das in kurzen Zyklen (wenige Monate) messbaren Fortschritt und einen nachweisbaren ROI realisiert. Beispiele dazu sind auf meinem Blog zu finden, wie Behaviour-Driven Development.

Riskieren wir einen Blick in die Glaskugel: Wohin geht die Reise von Lean Product Development?

In der Softwareentwicklung ist das Äquivalent bereits weit verbreitet: Unternehmen wie Netflix oder Shopify nutzen Continuous Integration (CI)/Continuous Delivery(CD), um ihre Software hunderte Male pro Tag zu aktualisieren. Insbesondere war die Softwareindustrie schon immer sehr offen und hat es auch geschafft, funktionierende Geschäftsmodelle auf kostenlosen Werkzeugen und Ökosystemen aufzubauen. Davon ist Lean Product Development weit entfernt. Die heute eingesetzten Werkzeuge sind teuer, viele Unternehmen sträuben sich gegen Offenheit.

Aus diesem Grunde vermute ich, dass in den nächsten Jahren der Großteil der Innovation hinter Firmenwänden stattfinden wird. So berichtete Rene Honcak von ZF kürzlich auf einer Konferenz, ein tief integriertes Modellierungsökosystem aufgebaut zu haben. Damit konnte das Unternehmen die Entwicklungsdauer von Leistungselektronik von einem Jahr auf zwei Monate zu verkürzen.

Mittelfristig erwarte ich, dass Unternehmen verstärkt neuere Werkzeuge wie Flow Engineering oder Valispace einsetzen werden, die diese Arbeitsweise unterstützen.

Langfristig hoffe ich, dass sich offene Ökosysteme etablieren werden, über die fertige Komponenten direkt in die Entwicklungsumgebungen eingebunden werden können. Auch hier etwas Kontext: Im Prinzip haben wir das ja für standardisierte Komponenten wie Schrauben oder Elektronikkomponenten über Organisationen wie ISO oder DIN. Spannend wird ein Ökosystem, das Ähnliches für nichtstandardisierte Komponenten leistet, die sich auch mit der Zeit weiterentwickeln. In der Software ist das mit Paketmanagern wie npm oder pip längst Standard.

„Insbesondere war die Softwareindustrie schon immer sehr offen und hat es auch geschafft, funktionierende Geschäftsmodelle auf kostenlosen Werkzeugen und Ökosystemen aufzubauen. Davon ist Lean Product Development weit entfernt. Die heute eingesetzten Werkzeuge sind teuer, viele Unternehmen sträuben sich gegen Offenheit.“

Dr. Michael Jastram

Letzte Frage: Wenn Du ein Buch für Systems Engineering und Lean Product Development empfehlen würdest: Welches sollte es sein?

In dem Bereich gibt es im Moment noch sehr wenig, da muss ich wohl selbst eines schreiben. Empfehlen kann ich im Moment Grundlagen der agilen Produktentwicklung von Joachim Pfeffer, das er sogar kostenlos als E-Book bereitstellt. Gut, aber mit Vorsicht zu genießen ist The Agile Systems Engineering Handbook. Dieses kostenlose E-Book wurde von Flow Engineering herausgegeben und promoted das Werkzeug. 

Um mit dem Thema zu beginnen, empfehle ich natürlich einen Besuch von SE-Trends. Der Blog ist inzwischen im 10. Jahr und enthält über 500 Artikel, einschließlich mehrerer zu Lean Systems Engineering.

Das Interview mit Dr. Michael Jastram führte Christopher Schulz per E-Mail am 08. Mai 2025.

Zur Person Dr. Michael Jastram

Dr. Michael Jastram

Dr. Michael Jastram

Berater, Speaker und Autor

Dr. Michael Jastram ist Experte für Systems Engineering und Anforderungsmanagement mit Fokus auf moderne Ansätze wie MBSE, KI und agile Methoden in der Produktentwicklung. Als Geschäftsführer der Formal Mind GmbH unterstützt er Unternehmen beim Aufbau schlanker, effektiver Entwicklungsprozesse. Auf seinem Blog se-trends.de analysiert er aktuelle Entwicklungen im Systems Engineering. Er ist international als Berater und Speaker gefragt und verbindet methodisches Know-how mit praktischer Umsetzungskompetenz.

Grundlagen der agilen Produktentwicklung - Cover

Grundlagen der agilen Produktentwicklung: Basiswissen zu Scrum, Kanban, Lean Development (Lesetipp von Michael Jastram)

peppair Eigenverlag | 2023 | 212 Seiten | Print-ISBN: 978-3947487196

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